“Die Deutsche Demokratische Republik begann für mich, wenn es mir auch noch nicht bewußt war, bereits im Winter 46 auf 47. Ich war zu Schiff aus Mexiko nach Schweden gekommen mit mexikanischem Paß und schwedischem Visum. In Stockholm wartete ich auf die Einreisegenehmigung in den von der Sowjetarmee besetzten Teil Deutschlands.
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Entschuldigt, daß ich soviel von mir schreibe und von meinem Beruf. Ich muß es, wenn diese Darstellung wahrhaftig sein soll. Man gab mir das Einreisevisum. Was später „kalter Krieg“ hieß, fröstelte damals schon da und dort, war aber noch nicht richtig ausgebrochen. In meinem Fall genügte das Visum für eine der vier Besatzungszonen, um die Einreisegenehmigung nach Berlin von den drei anderen Alliierten zu erhalten. Der junge Kontrolloffizier sagte lachend, das russische Visum betrachtend: „Ich verstehe zwar keine Spur von dieser Schrift, denke aber, es wird schon stimmen.“ Er war noch nicht verhärtet, noch nicht erbost.
Ich kam in Berlin in einem Villenvorort an. Er war mit hoher Einquartierung bestraft, weil die Bewohner sich geweigert hatten, Flüchtlinge,die überall in Gruppen auf der Straße lagen, in ihre sauberen Villen aufzunehmen.
Nach wenigen Untergrundbahnstationen begann die Einöde, das zerbombte Berlin. Die Straßen erkannte ich nicht wieder. Man mußte über Trümmer zur anderen Seite steigen. Nachts träumte ich in dem Zimmer, das man Freunden und mir beschafft hatte, von den verwirrenden Ausgrabungen neben der mexikanischen Stadt Oaxaca. Als ich morgens hinaussah, lagen keine Ruinen von Tempeln vor mir, sondern Ruinen menschlicher Wohnungen, Schutt und Trümmer.
Ich glaube, es war schon an diesem Morgen, als es kräftig an unsere Tür klopfte. Wilhelm Pieck sagte lächelnd: „Jetzt seid ihr also daheim. Wir brauchen euch. Wir brauchen jede Hilfe.“
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Die Schulen mußten von Grund auf verändert werden, in denn man solchen wie ihm die faschistischen Lügen beigebracht hatte. Ich ging in eine Klasse, die in einem zerbombten Haus provisorisch eingerichtet war. Fröstelnd und hungrig lernte da ein Haufen Jungens. Jeder hatte zu Mittag nur ein Stück Brot. Sie stellten mir eine seltsame Frage – wenigstens fand ich sie damals seltsam: „Was sagt man im Ausland über uns, die Jugend in Deutschland?“ – „Was habt ihr über die Jugend der anderen Länder gesagt, al die Wehrmacht über sie herfiel?“ Verwunderung. Schweigen. Ja, aber dieselben Knaben bereiteten sich eifrig auf ihre Prüfungen vor. Doch was sie lernten, hing von den Lehrern ab. Die meisten Lehrer waren noch immer im Nazismus verwurzelt.
In der Erzählung Bozenna zeigt Günter de Bruyn einen Pimpf in Polen, der vor den Augen seiner Gruppe naiv, aus Hilfsbereitschaft, einer alten jüdischen Frau auf der Straße hilft, ihr Zeug in den umgekippten Korb zu sammeln. Dafür wird er dann von Lehrer und Klasse in Acht und Bann getan. – In den Betrieben wurde damals noch oft Schrott und Kohle in Handwagen zu unversehrt geblieben Hochöfen gefahren. Es heißt in Kubas Gesicht: „Doch nach den Kriegen folgte jene Zeit der Wettbewerbe, und die Zeit der Wettbewerbe war der Anbeginn.“ Aber Hennecke war zuerst nur ein einzelner, und er wurde von vielen ausgelacht. Spöttisch, unverständig wurden zuerst die Menschen an unserer Seite angesehen, über die Claudius schrieb.”
(aus: Anna Seghers “Aufsätze, Ansprachen, Essays 1954-1979”, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 2. Auflage 1984)